Technologien des Selbst nach Michel Foucault

Um das Konzept der Technologien des Selbst begreifen zu können, ist es zunächst notwendig, Foucault in die Antike zu folgen und sich dort den philosophischen Diskurs der ›Sorge um sich‹ anzusehen. Nur über diesen Umweg lässt sich begreifen, wie über »die Wahl einer Lebensform, die Regulierung des eigenen Verhaltens, die Selbstzuweisung von Zielen und Mitteln« [1] ein ›Subjekt der Freiheit‹ hergestellt wird. [2]

Die antike Sorge um sich

In der Antike richtet sich die ›Sorge um sich‹ an die freien männlichen Bürger. Sie sollte ihnen dabei helfen, sich selbst in einen Zustand zu versetzen, der es ihnen ermöglicht, sich und andere ›gut‹ zu führen. Dabei wurde ihnen nicht einfach ein Regelwerk vorgelegt, das es einzuhalten galt. Stattdessen handelte es sich um einen Komplex aus praktischen Handlungsanleitungen für den Umgang mit sich und anderen sowie um Empfehlungen, die sich direkt auf den Umgang mit dem eigenen Körper und Geist bezogen:
»Die Übungen lassen sich unterscheiden nach solchen, die realiter ausgeführt werden […] und solchen, die im Einüben in Gedanken und durch das Denken bestehen.« [3]
Solche Praktiken zielen unter anderem auf eine Verbesserung der Fähigkeiten des Sprechens, Zuhörens, Schreibens und Lesens sowie der körperlichen Fitness und Ausdauer. Der souveräne Umgang mit seinen Fähigkeiten und der bewusste Ausbau von Möglichkeiten ist also Ziel der ›Sorge um sich‹. Des Weiteren waren diese Praktiken des Selbst in einen moralischen Kontext eingebettet.

Asketische Praktiken der Selbstsorge

Ein besonders wichtiger Aspekt dieser Lebensanleitungen ist der Grundsatz der Mäßigung. Gleich, um welche Tätigkeit es sich handelt – ob sie nun die Führung des Hauses, den Umgang mit Frau und Sklaven oder sexuelle Aktivitäten betrifft –, stets ist darauf zu achten, dass ein ›gesundes‹ Maß nicht überschritten wird. [4] Dabei wird die Gesundheit als Leistungsfähigkeit oder Einsatzfähigkeit definiert: Wer durch übermäßigen Alkoholgenuss am nächsten Tag nicht seinen Geschäften nachgehen kann, hat sich selbst diskreditiert.
Die Selbstregulierung wird in diesem Sinne zur Selbstführung, indem das Subjekt in die Lage versetzt wird, sich selbst zum Gegenstand seiner Reflexionen zu machen und dadurch zu kontrollieren.
Die antike Subjektivierungsweise ist also durch asketische Praktiken der Selbstsorge gekennzeichnet, wobei die Askese »nicht im Sinne einer Moral des Verzichts, sondern in dem einer Einwirkung des Subjekts auf sich selbst [zu verstehen ist], durch die man versucht, sich selbst zu bearbeiten, sich selbst zu transformieren und zu einer bestimmten Seinsweise Zugang zu gewinnen.« [5]

Macht über sich selbst

An diese Funktion der Selbstführung ist aber auch die Funktion des Führens anderer gekoppelt. Denn wer sich unverhältnismäßig verausgabt und nicht auf die Gestimmtheit seiner Seele und seines Körpers achtet, der ist auch nicht in der Lage, anderen als Vorbild zu dienen oder über andere befehlen zu können. In Bezug auf Foucaults Machtkonzept [6], bedeutet dies, dass das – sich auf diese Weise konstituierende – Subjekt ein positives und reversibles Verhältnis zu den Machtbeziehungen eingeht. Es ist ein ›freies‹ Subjekt, insofern es durch die Beziehung, die es zu sich selbst aufbaut, eine flexible und selbstbestimmte Position im Feld der Machtbeziehungen einnehmen kann:
»Es handelt sich in der Tat um eine Art und Weise, sie [die Machtbeziehungen] zu kontrollieren und zu begrenzen. […] [E]s ist die Macht über sich selbst, die die Macht über die anderen reguliert.« [7]
Die Freiheit des Subjekts besteht in einer Absage an seine Begierden und in der Arbeit an seinen Schwächen und Fehlern. An dieser Stelle wird das Paradoxon der Selbstbeherrschung durch Befreiung von bestimmten Verhaltens- oder Denkmustern offenbar.

Prozess der Subjektivierung

Allerdings kann die Subjektivation nicht losgelöst von den in der Gesellschaft bestehenden und zirkulierenden Ideen oder Kategorisierungsmustern von wahr und falsch, gut und schlecht oder gesund und krank stattfinden, denn diese sind in hegemoniale Diskurse eingelassen und stützen sich auf teilweise institutionalisierte soziale Werte, Normen und Regeln. Folglich bestimmen sie gleichzeitig die möglichen Seinsweisen von Subjekten.
Laut Foucault wird der Prozess der Subjektivierung in zwei Schritten vollzogen. Dieser Zweischritt erklärt sich für Foucault aus einer Untersuchung des Begriffs der Moral, die erbrachte, dass eine Trennung zwischen Moral und moralischem Kodex vorzunehmen sei:
Der moralische Kodex schließe laut Foucault alle gesellschaftlichen Werte und Normen ein, die dem Subjekt insbesondere durch Institutionen wie Ehe, Familie oder Schule vorgeschrieben werden. Mit dem Begriff Moral allerdings meint er »das wirkliche Verhalten der Individuen in ihrem Verhältnis zu den Regeln und zu den Werten, die ihnen vorgegeben sind«. [8]
1) Die Subjektivierung erfolge demzufolge dergestalt, dass erstens das Subjekt seine Lebensweise in einen größeren moralischen Kontext stellen und für sich festlegen muss, welchem Prinzip es sich verpflichtet fühlt, nach welchen Grundsätzen es leben will. Foucault nennt dies die »Bestimmung der ethischen Substanz« [9] und meint damit das bereits erwähnte individuelle und kreative Moment innerhalb der Selbstsorge.
2) Zweitens wird das Subjekt bestimmen müssen, welches Verhältnis es zu dem gesellschaftlichen Moralkodex herstellen kann oder will. Es muss für sich die Frage klären, wie stark es sich dem moralischen Kodex verpflichtet fühlt und warum.
Grundsätzlich lässt sich also sagen, dass es lediglich ›normierte‹ Subjektivierungsformen geben kann. Jedoch werden dem Subjekt durch die Technologien des Selbst gleichzeitig Möglichkeiten geboten, seinem Dasein eine individuelle Prägung zu geben.

Ästhetik der Existenz

Diese Teleologie bzw. die Forderung nach einem sich selbst gestaltenden Subjekt beschreibt Foucault auch mit dem Begriff der ›Ästhetik der Existenz‹ und dies wiederum meint, dass Subjekte »nicht nur Verhaltensregeln für sich festlegen, sondern […] aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte beinhaltet und gewissen Stilkriterien genügt.« [10]
Nur so können sie ihr Potenzial umsetzen, die Spiele der Macht anders zu spielen. Denn gerade dadurch, dass die Technologien des Selbst das Subjekt befähigen, individuelle Ankerpunkte oder Prioritäten zu setzen und aus dem Konglomerat an diskursiven Praktiken, diejenigen zu übernehmen, denen es sich selbst unterwerfen will, werden aktiv handelnde Subjekte geschaffen. [11]
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Technologien des Selbst »ein multiples Selbst [konstituieren], das seine Kohärenz im Stil der Existenz findet.« [12]
Das Subjekt bleibt zwar noch immer von Machtmechanismen eingeschlossen und insofern ›unterworfen‹, gleichzeitig aber bringt die besondere Beziehung, die es zu sich selbst aufbauen kann, einen gewissen Spielraum ›außerhalb‹ der Macht mit sich [13] und setzt damit auch einen Ansatzpunkt für Subversion.

[1] Foucault, Michel (2005a): Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV 1980-1988, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, S. 261.
[2] Wie bereits angedeutet wurde, soll nicht explizit auf die Veränderungen der Technologien des Selbst von der Antike über das Mittelalter bis in das 18. und 19. Jahrhundert eingegangen werden. Eine solche Herangehensweise würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
[3] Foucault 2005a, S. 434.
[4] Vgl. Foucault, Michel (1986): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Band 2, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, S. 30ff.
[5] Foucault 2005a, S. 876.
[6] Foucault wendet sich gegen das juridische Machtmodell, das besagt, dass Macht von einer Person besessen werden könne. Stattdessen entwirft er ein anderes Machtkonzept: »Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.« (Foucault, Michel [1983]: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Band 1, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, S. 94).
[7] Foucault 2005a, S. 884.
[8] Ebd., S. 679.
[9] Ebd.
[10] Ebd., S. 666.
[11] Vgl. ebd., S. 897f.
[12] Schmidt, Wilhelm (2000): Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, S. 11.
[13] Es gibt bei Foucaults Machtkonzept kein außerhalb der Macht, aber ein Leben an den Grenzlinien der Diskursivität/Diskurse und nur insofern wurde das Wort außerhalb gebraucht.