Pierre Bourdieu: Kapitalsorten

Um die Strategien der symbolischen Gewalt erfassen zu können, bedarf es einer Konkretisierung des Zusammenhangs von Kapital, sozialem Raum und Individuum sowie einer Erläuterung der Entstehungsbedingungen für eine stabile Verteilung des Kapitals innerhalb der Gesellschaft. Das Kapital wirkt hierbei als symbolischer Anker, indem es die individuelle »Verfügungsmacht über das in der Vergangenheit erarbeitete Produkt (insbesondere die Produktionsmittel) wie zugleich über die Mechanismen zur Produktion einer bestimmten Kategorie von Gütern« [1] anzeigt.
Die Positionierung im sozialen Raum entsteht demzufolge durch die Generierung bzw. Akkumulation von materiellen und immateriellen Ressourcen.
Über die Differenzierung des Kapitals in Kapitalstruktur und Kapitalvolumen verdeutlicht Bourdieu die passiven und aktiven Aneignungspraktiken von Werten und Gütern. Die Kapitalstruktur weist dabei die qualitative Zusammensetzung der verschiedenen Kapitalsorten eines Individuums aus, während das Kapitalvolumen die Quantität der Kapitalstruktur angibt, über die eine Person verfügen kann [2].
Zu den verschiedenen Kapitalsorten sind das soziale Kapital (familiäre oder außerfamiliäre Netzwerke, Beziehungen usw.), das kulturelle Kapital (objektiviert: Besitz von Kulturgütern oder inkorporiert: Bildungsabschlüsse, Sprachgebrauch etc.) und das ökonomische Kapital (Geld, veräußerliche Güter oder sonstiges Eigentum) zu zählen. [3]
Für die Generierung und Anhäufung der meisten Kapitaltypen spielt der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle. Bevor kulturelles Kapital durch Zertifizierungen oder Dokumente (Bildungstitel, Urkunden usw.) gesichert werden kann und damit zu einem lebenslangen Besitz wird, muss es zuvor durch jahrelange Aus- und Fortbildungszeiten aufwändig und mühsam erarbeitet werden.
»Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter‘ Form.« [4] Die verschiedenen Kapitalsorten können zumeist relativ problemlos ineinander transformiert werden.
Transformationen sind allerdings nicht immer erfolgreich, da inkorporierte Kapitalformen nicht ohne Weiteres entäußert werden können, auch wenn der Begriff des Humankapitals dies nahelegt. Über die Situierung eines Subjekts innerhalb des sozialen Raums entscheidet somit nicht nur materieller Besitz, immaterielle Werte tragen ebenfalls dazu bei.

Inkorporierung

Zudem können die verschiedenen Kapitalsorten entweder objektiviert und äußerlich bleiben oder aber subjektiviert und verinnerlicht werden. Den letzteren Prozess bezeichnet Bourdieu als Inkorporierung:
Das Kapital geht dem Menschen in diesem Fall in ›Fleisch und Blut‹ über, indem es sich dem individuellen Habitus einprägt [5]. Darüber hinaus entwickelt das Kapital ein spezifisches Gewaltpotenzial, weil es nicht nur die soziale, sondern vor allem auch die symbolische Praxis bestimmt [6].
Das Kapital einer Person legt u.a. fest, wie viel symbolische Macht ein Individuum im sozialen Raum entfalten kann. Als mehr oder weniger dauerhafte Ressource gilt es als Grundvoraussetzung für soziales Handeln und somit für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Es ist nur in Beziehung zu anderen Habitus bzw. deren Position im System der symbolischen Macht bestimmbar [7].

[1] Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main: Surkamp, S. 9., S. 10.
[2] Vgl. Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 18ff.
[3] Im Verlauf seiner Forschungstätigkeiten ›entdeckt‹ Bourdieu immer mehr Kapitalsorten, sodass ihm Kritiker_innen mangelnde Definitionsklarheit vorwerfen (vgl. Rehbein, Boike/Saalmann, Gernot (2009a): Kapital (capital), in: Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 134-140, S. 138).
[4] Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2,Göttingen: Schwartz, S. 183-198, S. 183.
[5] Vgl. Bourdieu 1998, S. 118.
[6] Vgl. Schmidt, Robert (2009): Symbolische Gewalt (violence symbolique), in: Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 231-235, S. 233.
[7] Vgl. Rehbein/Saalmann 2009a, S. 135.