Wissenschaftsphilosophie

Wissenschaftsphilosophie mit Martin Carrier

Am Wochenende fand der vierte Bielefelder Fachtag Philosophie im neuen Campus der Universität Bielefeld statt. Vorträge und Workshops beschäftigten sich mit der Frage: Was wissen wir von der Wirklichkeit? Eröffnet wurde der Fachtag von Prof. Dr. Martin Carrier, Wissenschaftsphilosoph und Träger des Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er untersucht momentan, inwiefern der Verwertungsdruck auf die Wissenschaften deren Methoden verändert. Sein Vortrag trug den Titel »Erfahrung, Modelle, Realität: Wissenschaft und Wirklichkeitserkenntnis«.

Erfahrungswirklichkeit

Die Wirklichkeit, wie wir sie wahrnehmen, speist sich aus Erfahrungen, die wir mit unserer psycho-sozialen Umwelt machen. Erfahrungen sind konstante und dadurch verlässliche Indikatoren zur Erschließung der Wirklichkeit und meist sogar kohärent, weil sie auf Sinneseindrücken basieren. Außerdem sind Erfahrungen intersubjektiv nachvollziehbar. Erkenntnis ist also direkt (wenn auch über den Umweg unseres Wahrnehmungsapparates) zugänglich. Es bedarf keiner Hilfsmittel, keiner Methoden und Instrumente.

Beobachtungstheorien

Anders sieht es bei Erfahrungswirklichkeiten aus, die aufgrund von Beobachtungstheorien entstehen. Beobachtungstheorien erweitern den Erkenntnisraum, weil sie Phänomene beobachtbar machen, die ohne theoretische Annahmen gar nicht beobachtbar wären. Es handelt sich also um »theoriebeladene Beobachtungen«, für die technische Messinstrumente unabdingbar sind. Die von ihnen beobachtbare Wirklichkeit ist nicht mehr unmittelbar erfahr- bzw. erlebbar, weshalb ihre Erkenntnisse eigentlich theoretisch bleiben. Die Interpretation der Messergebnisse ist dann Teil der Theorie. Eine unabhängige Prüfbarkeit von Erkenntnis ist erst dann gegeben, wenn sowohl die Beobachtungstheorie als auch das theoriebeladene Beobachtungssubjekt unabhängig voneinander gültig sind.

Tatsachen werden durch Theorien erzeugt, und Theorien werden durch Tatsachen beurteilt. Sie können bestätigt oder verworfen werden.

Das Wunderargument

Erkenntnisse aus den Beobachtungstheorien sind jedoch keine reinen Konstruktionen, nur weil ihnen weit verzweigte Interpretationsschemata zugrunde liegen. Stattdessen können ihre Theorien als „denk-ökonomische“ Darstellungen der Erfahrung gewertet werden. Ihre Gültigkeit erlangen sie dadurch, dass sie sehr erfolgreich Vorhersagen treffen. Der wissenschaftliche Realismus geht davon aus, dass der vorläufige Erkenntnisstand gültig ist und akzeptiert werden kann.

»Erfolgreiche Theorien sind zu gut, um nicht wahr zu sein.«