Judith Butler und die ›Anderen‹

Von der Verletzlichkeit der Anderen

Judith Butler möchte Widerstand neu denken

Die Philosophin, Gender und Queer Theoretikerin Judith Butler war zu Gast in Deutschland. Im Rahmen der Albertus-Magnus-Professur 2016 an der Universität zu Köln hat sie zwei öffentliche Vorlesungen in der hoffnungslos überfüllten Aula der Universität gehalten: »Die Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit« und »Verletzlichkeit und Widerstand neu denken«. Ich war da und habe meine Erkenntnisse für euch zusammengefasst: Betrauerbarkeit und Verletzlichkeit könnten als Konzepte der Empfindsamkeit eine neue Menschlichkeit schaffen. Sie sollten nicht als Nachteil gedeutet werden, sondern als eine Chance zum Widerstand und Anleitung einer neuen Form der Politik.

Betrauerbarkeit

Ein betrauerbarer Mensch ist ein Mensch, dessen Verlust oder Verletzung uns, das Individuum oder das Kollektiv, schmerzen würde. Betrauerbare Menschen stehen uns meist in irgendeiner Weise nah, sei es, weil sie zu unserer Familie gehören oder weil wir ähnliche sozio-kulturelle Merkmale mit ihnen gemeinsam haben. Betrauerbarkeit ist das Konzept, durch das Menschen in die Gesellschaft inkludiert werden. Genauso werden sie von einem Mangel an Betrauerbarkeit aber auch exkludiert, gelangen nicht in den Gefühlskreislauf, der sie davor schützen könnte, verletzt, benachteiligt oder getötet zu werden. Menschen ohne diesen Vorschuss an Empathie sind als Gesellschaftsmitglieder nicht willkommen, werden von den Betrauerbaren ausgeschlossen. Der Wert eines Menschen zeigt sich beispielsweise in der öffentlichen Trauer. Betrauerbarkeit kann also hergestellt, medial gelenkt und verändert werden. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Konzept der Verletzlichkeit.

Verletzlichkeit als Prinzip

Zunächst einmal sei gesagt: Wir alle sind verletzlich. Verletzbarkeit bezieht sich auf alle sozialen und materiellen Körper. Sie umfasst meiner Meinung nach auch die Infrastruktur und die Natur. Verletzlich sind die sozio-materiellen Körper, weil sie permanent von Beschädigung und Zerstörung bedroht sind. In der Gesellschaft zeigt sich erhöhte Verletzlichkeit in mangelhaften Infrastrukturen öffentlicher Räume. Es fehlt beispielsweise an Nahrung, Strom und Wasser. Menschen, die in solchen Räumen leben, spüren in besonderer Weise ihre Verletzlichkeit. Sie sind Ausgeschlossene und der Gewalt von Staat und Polizei schutzlos ausgeliefert.

Das Konzept der Verletzlichkeit ist nicht nur auf den öffentlichen Raum beschränkt, den Menschen als »Erscheinungsraum« (Hannah Arendt) und Performanzraum nutzen, sondern dringt (sofern vorhanden) in die eigenen vier Wänden ein, in die Schutzräume von Intimität und Individualität. Verletzlichkeit ist überall dort, wo Gemeinschaft ist, selbst wenn das Zusammenleben von Menschen nicht immer lebensbedrohlich ist. Die Verletzlichkeit beruht auf den performativen Herstellungsprinzipien sozialer Ordnung. Gesellschaft ist fragil und ebenso verletzlich wie die Körper, die sie ›herstellen‹. Performative Sprechakte, das Erschaffen eines Körpers durch die Benennung dieses Körpers, festigen das Beziehungsnetzwerk zwischen Individuum und Gesellschaft. Gesellschafts- und Individualkörper bedingen sich gegenseitig, sind abhängig voneinander, weil sie sich in einem unendlichen Spiel bejahen.

Widerstand mobilisieren

Wir alle sind schwach und auf die Verletzlichkeit der Anderen angewiesen. Doch gerade weil wir und die uns bedingenden Strukturen verletzlich sind, können wir stark sein, können wir das Potenzial des Widerstands nutzen, das in dieser Verletzlichkeit liegt. Subversivität entsteht, laut Judith Butler, durch die Frage »Am I that name?« (Denise Riley). Muss ich den Namen oder die Zuweisung annehmen. Dabei ist es mühsam, darüber zu grübeln, was zuerst da war: der Name oder das Angesprochene. In den meisten Fällen wird erst der Name gegeben, den ich mir dann aneigne (oder auch nicht). Mühsam ist es deshalb, weil immer beides zugleich stattfindet: das Sprechen und das Angesprochen werden. Das macht Widerstand einerseits schwierig, denn die Namen und Normen sind tief in uns verkörpert, andererseits ist es dadurch auch sehr leicht, ›Widerspruch‹ zu leisten. Subversion ist jederzeit möglich, weil die Normen festigenden Praktiken immer wieder aufs Neue ›aufgeführt‹ werden.

Verletzte Bürger_innen

Verletzlichkeit wird dann zum Widerstand, wenn sie als Form der Reflexivität unsere Aufmerksamkeit lenkt. Sie macht uns empfindsam und offen für das Eingebundensein in die Welt und die Gesellschaft. Der Anti-Genderdiskurs spricht gegen diese Verletzlichkeit. Maskulinist_innen, Nationalist_innen und andere ‚verletzte Bürger_innen‘ wollen sich nicht abhängig fühlen, nicht schwach sein. Sie sehen die Verletzlichkeit als Makel, den es zu überwinden gilt. Ihre Identität baut nicht auf Verletzlichkeit, sondern auf Stärke, auf Macht und Gewalt. Als Mächtige wollen sie betrauert werden, sie wollen dass ihre Betrauerbarkeit exklusiv ist. Verletzlichkeit können sie nicht akzeptieren. Das Problem an dieser Denkweise ist, dass es den Zustand der Unverletzlichkeit nicht geben kann.

Feminismus(s) gar nichts

Die Akzeptanz von Verletzlichkeit führt, laut Judith Butler, zu einer anderen Form von Widerstand. Widerstand zeigt sich dann beispielsweise in der Forderung »Support us!«, während ›verletzte Bürger_innen‹ nach Ausgrenzung und Abschiebung rufen, nach einer Erhöhung des Verletzlichkeitspotenzials anderer. Das ist dann auch der Unterschied zu den Queeren und Gender Theoretiker_innen: Feminist_innen verstehen den Feminismus nicht als Essenz ihrer Identität, weil sie die Verletzlichkeit von Normen und die Möglichkeit des Anders-sein-könnens akzeptieren. Sie wollen keine neuen Normen für Geschlecht oder Sexualität schaffen, sondern Normen lockern, damit sich mehr Menschen in ihrer Verletzlichkeit anerkennen können. Es geht darum, die infrastrukturellen und intersubjektiven Bedingungen zu gestalten. Denn wer die eigene Verletzbarkeit anerkennt und sie als Eigenschaft eines jeden Menschen begreift, kann auch um diejenigen trauern, die bis jetzt nicht als betrauerbar galten.