Ein Kind steht mit Regenjacke, Schirm und Ranzen im tosendem Wind.

El-Mafaalani: Superdiverse Kindheit

Im Juni 2025 war ich im Rahmen der phil.cologne zu Gast auf einem Talk mit Aladin El-Mafaalani, Soziologe und Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der TU Dortmund. In seinem aktuellen Buch »Kinder – Minderheit ohne Schutz. Aufwachsen in der alternden Gesellschaft«, das er gemeinsam mit Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier geschrieben hat, geht es um genau das: Kinder (und Eltern) als vernachlässigte Minderheit in der alternden Gesellschaft.

Zunächst einmal der Befund:

»Kinder sind eine Minderheit, und sie wachsen gleichzeitig unter den heterogensten Rahmenbedingungen auf. Mehr denn je sind sie auf Erziehungs- und Bildungsinstitutionen angewiesen, weil in der alternden Gesellschaft zum einen kindergerechte Räume immer weniger selbstverständlich sind und zum anderen die Erwerbstätigkeit beider Eltern immer erforderlicher wird.« (El-Mafaalani/Kurtenbach/Strohmeier 2025: 147)

Kindheit in Deutschland ist superdivers. Zur Illustration stell dir eine Grundschule mit etwa 180 Kindern vor. Es ist eine recht kleine Schule, an der aber Kinder aus über 50 Ländern, mit 24 Sprachen und 8 Religionszugehörigkeiten unterrichtet werden. Im Vergleich dazu ist »die migrationsbezogene Diversität eines international agierenden Unternehmens in derselben Stadt« (ebd.: 79) geradezu ›unterdivers‹.

Obwohl die Kinder so verschieden sind, sind ihre Bedürfnisse gleich, und sogar gleichgeblieben. Sie wünschen sich gemeinsame Zeit mit ihren Eltern, eine qualitätvolle Eltern-Kind-Zeit, in der die Eltern nicht so gestresst sind wie sonst. Und Eltern mit hohen Bildungsabschlussen und entsprechend besser bezahlten Jobs können diesem Wunsch auch nachkommen.

Gleichzeitig ist die Zeit, die Kinder in Bildungsinstitutionen verbringen, gestiegen. Gerade Familien, in denen beide Eltern arbeiten gehen müssen, um überhaupt ein Einkommen in Höhe von Bürgergeld zu verdienen, bleibt für intensive Beziehungen kaum noch Zeit. Im Durchschnitt gibt ein Drittel aller Kinder an, dass es an seiner Schule keine einzige Person kennt, der es wichtig wäre, dass es da ist. Das bedeutet, es gibt Schulen, wo mehr als ein Drittel der Kinder niemanden haben, dem sie wichtig sind.

Nicht nur Deutschland hat so wenige Kinder wie noch nie, auch in anderen westlichen Ländern ist der demografische Wandel spürbar. Aber gerade hier steigt zudem die Quote von Schulabgänger:innen ohne Abschluss. Im Jahr 2022 haben die deutschen Schüler:innen das schlechteste Pisa-Ergebnis jemals erzielt. In Deutschland leben immer mehr Kinder in Armut und das Risiko, arm zu werden, steigt, sobald Menschen Eltern werden.

Und nun zur Lösung:

Im Gegensatz zu der landläufigen Meinung, dass Schule oder Kindergarten keinesfalls die Defizite im familiären Umfeld auffangen sollten oder können, meinen die Autoren: Bildungsinstitutionen müssten Familienarbeit nicht nur ergänzen, sondern tatsächlich immer mehr ersetzen.

Dazu aber braucht es einen Kulturwandel der Institutionen, etwa multiprofessionelle Teams und die Auflösung von Professionslogiken der einzelnen Berufsgruppen (Entdifferzenzierung), damit Kinder den Wechsel von einer Institution in die andere nicht wie bisher als Kulturschock erleben.

Zum Kulturwandel gehört auch, dass die Babyboomer-Generation sich für Kinder engagiert. Die Politik muss finanzielle Anreize schaffen (z.B. Steuergutschriften, Honorare), damit diese bald größte Gruppe der aktiven Alten bei der Bildung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mithelfen kann (und will).

»Würde sich nur jede zehnte Person aus den geburtenstärksten Jahrgängen (1960–1969) in Kita oder Grundschule als Vorlesepate, als Integrationshelferin, als Handwerker:in […] engagieren […], dann wären das mehr Menschen als alle derzeit tätigen Erzieher:innen und Grundschullehrkräfte in Deutschland zusammen.« (Ebd.: 201)