Einführung in Pierre Bourdieus Denken

Der Entwurf einer Theorie der Praxis (1972) kann als Ergebnis von Pierre Bourdieus kritischer Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus und den rationalistischen Handlungstheorien verstanden werden. Kernfrage des Werkes ist die Klärung des Verhältnisses zwischen objektiven Strukturen und subjektiven Handlungsmustern. Für Bourdieu stellt sich die soziale Welt als relationales Gefüge dar, das sich aus kollektiven Symbolstrukturen und individuellen Handlungsschemata zusammensetzt [1].
Damit erteilt er nicht nur den Dualismen von Subjektivität und Objektivität sowie von Materialismus und Kulturalismus eine Absage, sondern verbindet zugleich subjekttheoretische mit strukturtheoretischen Ansätzen [2].
Laut Bourdieu findet die Vergesellschaftung der Individuen maßgeblich über deren Körper statt. Das Individuum eignet sich einen praktischen Sinn (sense pratique) an, der es dazu befähigt, sich ‚intuitiv‘ in der Gesellschaft zurechtzufinden. Dieser Praxissinn verkörpert sich schließlich im Habitus.
»Die Praxiswelt, die sich im Verhältnis zum Habitus als System kognitiver und motivierender Strukturen bildet, ist eine Welt von bereits realisierten Zwecken, Gebrauchsanleitungen oder Wegweisungen, und von Objekten, Werkzeugen oder Institutionen […]« [3].
Das Konzept des Habitus stellt demnach das wesentliche Prinzip der Konstitution von sozialer Welt dar, weil es die Trennung in bewusst oder unbewusst vollzogene Handlungen ad absurdum führt. Es schreibt sich als verinnerlichte Form einer Logik der Praxis sowie als affektive Handlungsanweisung in die Körperlichkeit der Individuen ein, setzt sich dort fest und schafft eine relativ stabile Disposition.

Logik des Sozialen

Das Prinzip bzw. der Mechanismus des Sozialen basiert demnach zum einen auf der reproduzierenden Kraft objektiver, sozialstruktureller Bedingungen der Lebenswelt und zum anderen auf der modifizierenden Wirkung subjektiver sozialer Praktiken. Diese Verbindung sorgt für die Konstanz des Habitus und entsteht nach Bourdieu im Zusammenwirken mit spezifischen Feldern und Kapitalsorten.
Die Sozialwelt setzt sich folglich aus zweierlei ›Stofflichkeiten‹ zusammen und gründet sich auf eine strukturierte und strukturierende Struktur. Habitus und Feld stehen in einem reflexiv-relationalen Verhältnis zueinander. Gesellschaft ist für Pierre Bourdieu also einerseits verkörperte Geschichte, andererseits stellt sie aber auch einen sozialen Raum dar, in dem die Konfiguration verschiedener Kräfteverhältnisse zu beobachten ist [4].
»Wegen der (reziproken) Eingebundenheit des Subjekts in der Welt und der Welt im Subjekt entwickelt das Subjekt im Laufe seiner Erfahrungen ein praktisches Verständnis der Welt, die ihm vertraut wird.« [5]
Zu den bedingenden Faktoren der Sozialordnung gehören spezifische Kapitalstrukturen [6], die sich in verschiedenen sozialen Feldern niederschlagen. Jeder Mensch besetzt gemäß seines Habitus, der wiederum das Resultat dieser charakteristischen Feld- und Kapitalstrukturen ist, eine bestimmte Position im sozialen Raum. An diese sind unterschiedliche Voraussetzungen der gesellschaftlichen Teilhabe geknüpft. Insofern führt kein Weg an einer Analyse derjenigen strukturellen Unterschiede vorbei, die Ausdruck praktizierter Ungleichheiten zwischen Individuen und Gruppen, Herrschenden und Beherrschten sind. [7]

Symbolische Gewalt

Aus der Verteilung von materiellen und immateriellen Ressourcen ergibt sich eine symbolische Machtkonstellation. Während sich die materielle Form (Geld, Kleidung, Autos) zählen lässt, wird die immaterielle Form überwiegend verinnerlicht (bspw. in Gestalt eines Wissensstandes oder eines bestimmten Know-hows). Sie entsteht maßgeblich über Mechanismen der sozialen Anerkennung, die zur Aufladung von Menschen, Orten oder Dingen mit symbolischer Aussagekraft führen. Dabei ist der soziale Raum nicht nur hierarchisch gegliedert, sondern regelrecht als soziales ›Schlachtfeld‹ anzusehen.
Letztlich zeugt die Stellung im Raum also von der Möglichkeit des Individuums – oder besser noch des Habitus –, symbolische Macht auszuüben und diese anzuerkennen. Weil die symbolische Gewalt unmittelbar an ›Körperpraktiken‹ gebunden ist, vermag sich das Individuum nur schwer von dieser Positionierung zu lösen.
»Die soziale Welt umfaßt mich als einen Punkt. Aber dieser Punkt ist ein Standpunkt, das Prinzip einer Sichtweise, zu der man von einem bestimmten Punkt im sozialen Raum aus kommt, eine Perspektive, die ihrer Form und ihrem Inhalt nach von der objektiven Position bedingt ist, von der aus man zu ihr kommt.« [8]
Der Prozess der Einverleibung oder Inkorporierung, das heißt die ›Gebrauchsanleitung‹ im Umgang mit den individuellen und kollektiven Körpern und ihren Habitus, gehört zu den Schlüsselmomenten in Bourdieus Theorie der Praxis. Den Wert seiner körpertheoretischen Arbeit sowie die Rolle des Körpers innerhalb der Konzeption der Sozialwelt zu erkennen, ist aufschlussreich, denn es ist die »kollektive Arbeit der Vergesellschaftung des Biologischen und der Biologisierung des Gesellschaftlichen in den Körpern und in den Köpfen« [9], die die Konstruktion und Konstitution von Gesellschaft bewirkt.

[1] Vgl. Saalmann, Gernot (2009): ‚Entwurf einer Theorie der Praxis‘, in: Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 272-279, S. 272f.
[2] Vgl. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loic J.D. (1996): Die Ziele der reflexiven Soziologie, Chicago-Seminar, Winter 1987, in: Dies. (Hrsg.): Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 95-250, S. 154ff.
[3] Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 100.
[4] Vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 127f.
[5] Jurt, Joseph (2008): Grundwissen Philosophie. Bourdieu, Stuttgart: Reclam Taschenbuch, S. 54.
[6] Vgl. Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9.
[7] In Die feinen Unterschiede (1982) analysiert Bourdieu gruppenspezifische kulturelle Praktiken, anhand derer sich gesellschaftliche Klassenunterschiede bemerkbar machen (vgl. Bremer, Helmut/Lange-Vester, Andrea/Vester, Michael (2009): Die feinen Unterschiede, in: Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 289-312, S. 289).
[8] Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 26f., Hervorhebung im Original.
[9] Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 11.