Biologisierung von Geschlecht
Der Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung e.V. (AKHFG) lud im Juli 2017 zur Tagung »Historische Perspektiven auf die Essentialisierung und Biologisierung von Geschlecht« ins Bochumer Haus der Geschichte des Ruhrgebiets ein. Im streng getakteten Programm wurden Themen wie Biologisierung des (Männer-)Körpers, Geschlechtliche Arbeitsteilung und Kernfamilie oder Geschlecht als wissenschaftliche Tatsache angekündigt.
Essentialisierung und Biologisierung von Geschlecht
Anti-Genderismus-Debatte
Eingeleitet wurde die Tagung durch Maren Lorenz und Falko Schnicke. Beide thematisierten Folgendes: Die Genderforschung sehe sich Angriffen und Diffamierungen ausgesetzt, denen es zu begegnen gelte. Die Kritiker_innen sehen ›ihre‹ Welt- und Geschlechterordnung infrage gestellt. Fraglich sei jedoch, welche natürliche Ordnung eigentlich geschützt werden solle.
Meist sei es die traditionelle Ordnung und Hierarchisierung der Geschlechter, wie sie im 18. Jahrhundert gelebt wurden. Auch der Vorwurf, Genderwissenschaftler_innen würden schon die Jüngsten dieser Gesellschaft indoktrinieren, sei kaum haltbar. Die Auseinandersetzungen bewiesen lediglich, dass es gesellschaftliche Einschreibungsprozesse sind, die geschlechtliche Praktiken hervorbringen, denn sie sind es, die ›geschützt‹ werden sollen.
In seiner Keynote stellte Heinz-Jürgen Voß heraus: Kritik kommt aus dem rechten wie dem linken politischen Lager. Während die Kritik des rechten Spektrums relativ einfach zu identifizieren sei, falle es schwer, Anfeindungen von linker Seite zurückzuweisen. Heinz-Jürgen Voß berichtet, er habe zwar von der Community Unterstützung erhalten, als es darum ging, ›die Rechten‹ in ihre Schranken zu weisen.
Bei Kritik von links sei dies um ein Vielfaches komplizierter gewesen, weil einerseits die ›Gefahr‹ bestehe, das eigene Nest zu beschmutzen, und Diskussionen an dieser Stelle andererseits schwer zu führen seien, da die Beratungsresistenz dort noch höher sei. Deutlich wird an dieser Beobachtung eines:
Traditionell-konservative Denkmuster sind manifest in den Köpfen verankert und wirken teilweise so unterschwellig, dass selbst links-progressive Kreise sie nicht erkennen.
Es mangelt auf beiden Seiten an Verständnis und Kritikfähigkeit.
Emanzipatorisches Potenzial nutzen
Heinz-Jürgen Voß ist Diplom-Biologe und Geschlechterforscher. Seine Dissertation veröffentlichte er 2010 unter dem Namen »Geschlechterdekonstruktion aus biologisch-medizinischer Perspektive«. Geschlechterchromosomen seien aus evolutionsbiologischer Sicht verzichtbar. Das zeigten Forschungsergebnisse. So gebe es Säugetiere, deren Chromosomensatz identisch sei, und dennoch gebe es männliche und weibliche Exemplare.
Voß möchte in Dissertationen und anderen wissenschaftlichen Texten, die sich mit Genderthemen beschäftigten, keine verkürzten Exkurse auf antike Geschlechterkonstruktionen lesen. Die Antike sei viel komplexer, als dass sie nur als Unterkapitel behandelt werden könne. »Lasst es lieber weg, wenn ihr nicht bereit seid, euch intensiv damit auseinanderzusetzen.«
Wer antike Geschlechtervorstellungen als Beleg heranziehe, solle sich entweder intensiv mit diesen beschäftigen oder sie gleich ganz weglassen.
Der transparente Körper
Einige Ergebnisse seiner Forschung über die Ökonomisierung des männlichen Körpers stellte Lars Bluma vor. Untersucht hat er männliche Industriearbeiter im Steinkohlebergbau an der Ruhr. Vom 17. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre hinein wurde noch schwere körperliche Arbeit geleistet. Mit der Einführung des Pneumatischen Abbauhammers sei dann allerdings ein neues Ensemble aus Mensch-Maschinen entstanden, bis der Bergmann später vorwiegend zur Maschinenwartung und -bedienung eingesetzt worden sei.
Es lasse sich eine voranschreitende Bewirtschaftung des Körpers durch bioökonomische Praktiken beobachten, die letztlich zur medizinisch-sozialen Kontrolle des Bergmanns führten. Anhand von Versicherungsstatistiken belegt Bluma die zunehmende statistische Erfassung des männlichen Körpers.
Krankheit, Nationalität, Alter oder Ehestand werden erfasst und mit ökonomischen Prozessen abgeglichen. Auf diese Weise entstehe nicht nur ein transparenter Körper, sondern auch eine neue Figur: der Simulant. Zuvor wurde dieser Begriff nur in militärischen Kontexten gebraucht, nun wird er zum Sinnbild des faulen/kranken Arbeiters, den es zu verwalten gilt.